„Die Großfamilie gibt es schon lange nicht mehr“

„Die Großfamilie gibt es schon lange nicht mehr“

Also liegt es an uns, einen Rahmen zu finden, in dem wir uns wohlfühlen können, meint meine erste Interviewpartnerin Nicole. Sie ist selbst Autorin, Mutter von vier Kindern und Expertin für die Schaffung von Ruhe-Inseln im Alltag, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellt. Ihre ruhige und bodenständige Art, auf Mutterschaft und Fürsorge im Allgemeinen zu blicken, ist ein Geschenk für mich und hoffentlich viele Frauen, die sich oft nur im „Funktionsmodus“ befinden. Ihr Buch „Fünf Minuten für Dich“ erinnert vor allem Mütter daran, wie essenziell kleine Alltagsrituale sein können.

„Es ist nichts mehr wie vorher...

Du hast vier Kinder großgezogen und kennst die Stürme des Familienalltags. Wann hast du zum ersten Mal gespürt: Ich brauche Zeit für mich, und zwar nicht irgendwann, sondern mitten im Leben?

Nicole: Gleich am ersten Abend mit unserer ersten Tochter. Ich war glücklich und seelig, sie endlich bei mir zu haben, gar keine Frage. Aber, was mir in diesem Moment nicht bewußt war, es ist nichts mehr wie es vorher war. Egal, was ich gerade tat, womit ich anfing, sobald sie weinte, musste ich stoppen mit dem, was ich tat. Es zählte nicht, wie wichtig es für mich war oder ob es dringend erledigt werden musste. Meine Tochter brauchte mich. Lange, sehr lange, verstand ich nicht, warum ich so unglücklich in mir war. Ich war so wütend zu Anfang, wütend auf sie, weil sie nicht einfach schlafen konnte wie viele andere Babys auch. Es dauerte eine Zeit lang, bis es sich einspielte und ich mich an diesen neuen Lebensabschnitt gewöhnte.

Wie kann es gelingen, sich im Wochenbett selbst nicht zu verlieren; zwischen Baby, Haushalt, Besuch und innerem Druck?

Meine Zeit im Wochenbett ist leider schon sehr lange her. Ich habe mich vermutlich eine Zeit lang verloren damals, ja. Heute denke ich drüber nach, dass es immer eine Möglichkeit gibt. Wenn wir es schaffen, uns diesem Gefühl anzunehmen und im positiven darauf zu schauen, z.B. ich habe zwar keine Oma, keine Tante oder dergleichen, aber wer könnte mir unterstützend zur Seite stehen? Was für Möglichkeiten gibt es noch, außer den klassischen Modellen? Die Großfamilie ist schon lange nicht mehr da, also liegt es an uns, wie wir einen Rahmen für uns finden, in dem wir uns wohl fühlen können. 

„Ich sage offen: Ich brauche jetzt Zeit für mich. Das wissen meine Kinder – und sie können damit gut umgehen.“

Was sind deine liebsten Mini-Rituale oder Strategien, um mitten im Trubel kleine Inseln der Ruhe zu finden, auch wenn gerade alles zu viel ist?

Wenn der Trubel da ist, dann nehme ich mir Zeit für mich, ich kommuniziere offen, ich brauche jetzt Zeit für mich. Das wissen meine Kinder und können damit sehr gut umgehen, weil es bei uns schon sehr lange so gelebt wird. Ich höre dann ein schönes Lied, für mich ganz allein, schreibe, was mir in den Sinn kommt oder telefoniere mit lieben Menschen, die ich schon lange nicht mehr gehört habe und wofür eh immer wenig Zeit ist. Als die Kinder noch klein waren und das noch nicht so einfach war in der Form, hab ich laute Musik angemacht zum Haushalt machen oder kochen. Selbst der größte Trubel war da schnell vorbei, ich kann da so herrlich abtauchen in meine Welt. Und gleichzeitig fanden die Kinder das immer lustig.

Was braucht eine Mutter deiner Meinung nach wirklich im Wochenbett – abgesehen von Windeln und Stilltee?

Aus heutiger Sicht sage ich, sie braucht Geborgenheit und Schutz, einen Raum der für sie gehalten wird. Ich wünschte, wir Frauen könnten uns im miteinander stützen und halten. Wir wissen alle, spätestens nach einer Geburt, wozu wir fähig sind, was wir alles schaffen und erreichen können. Wie stark wir wirklich sind. Diese Stärke und Kraft darf genährt und erschaffen werden, ja aufgetankt werden. Und nur weil wir stark sind heißt das nicht, nie schwach sein zu dürfen. Ein Miteinander ist so reich an Kraft und Wissen, das wünsche ich mir für alle Mütter.

„Nur weil wir stark sind, heißt das nicht, nie schwach sein zu dürfen!“

Du hast früher viele Jahre Hausfrau und Mutter – kann man das so sagen – „im klassischen Sinn“ – gelebt. Gibt es aus dieser Zeit etwas, das heutige Mütter wiederentdecken könnten?

Ja, kann man so sagen! Hm, wiederentdecken ist schwer zu sagen, denn dann würde das ja voraussetzen, ich hätte damals alles perfekt und nachahmungswürdig gemacht. Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, es war und ist mein Weg, ich habe meine Erfüllung im Mama sein gefunden. Ich möchte vielleicht dazu ermutigen, die jungen Menschen als ein Geschenk zu sehen, auch in den dunkelsten Stunden, wenn der Frust und der Ärger am größten ist. Als ich für mich erkannt habe, wie viel ich durch meine Kinder lernen kann, wenn ich ihnen meine Aufmerksamkeit schenke, wenn ich wirklich bei ihnen bin, wenn ich ihnen auf Augenhöhe begegne, ist bei mir eine Art Knoten geplatzt. Da hat bei mir was klick gemacht und ich habe so vieles los lassen können.

Was würdest du einer jungen Mutter sagen, die sich schämt, weil sie überfordert ist, obwohl doch „alles schön ist“?

Ganz unverblümt? Ich würde sie zunächst fragen, was sie als schön empfindet? Und ist Überforderung für sie wirklich so schlimm oder ist es ein Gefühl von außen, dass ihr anerzogen worden ist? Sich überfordert fühlen ist vielleicht auch ein Zeichen, dass sie Pause braucht, dass sie neue Dinge lernen darf, wie „Halt!“ oder „so nicht mehr!“ Ich würde sie ermutigen, ins Fühlen zu kommen und die Reise zu ihr selbst zu begrüßen. Und auch wenn sie mir vielleicht fremd wäre, so würde ich sie umarmen und halten und ihr sagen, dass sie nicht allein ist. 

„Ist meine Überforderung wirklich so schlimm – oder ein Gefühl von außen, dass mir anerzogen wurde?“

Was ist der eine Gedanke oder Satz, der dich immer wieder geerdet hat, in deinen müden, herausfordernden Momenten?

Ich bin für meine Kinder das Universum, das Eine, das Unersetzbare, ich bin ALLES für sie! Meine eigene Erfahrung nach dem frühen Tod meiner Mutter, ich war erst 11 Jahre, hat in mir etwas verankert, dass ich nicht nur als furchtbar annehme. Dieses Wissen hilft mir immer wieder, zu wissen, warum ich alles tue.

Gibt es eine Stelle aus deinem Buch oder eine bestimmte Übung, die du Frauen im Wochenbett besonders ans Herz legen würdest?

Es ist ein roulierendes Workbook, mit immer wiederkehrenden Tagesaufgaben, alle unterschiedlich, aber in der Struktur gleich. Ich selbst mag eine Art roten Faden sehr gern, wenn ich eine Routine für mich entwickle und dadurch ein Stück weit zu mir finde. Ich lege jedem ans Herz, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, bewusst und kontinuierlich. 

5 Minuten für Dich:
Dein Reflexionsjournal


– Julia, Mothers & Maidens

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